Geduckt rannte ich zur anderen Straßenseite und verschwand erneut in einer Gasse. In diesem Augenblick war es wohl der sicherste Weg, der durch die Stadt führte. Doch normalerweise trieben sich in dieser Gasse Taschendiebe, undefinierbare Kranke, Behinderte, Bettler und Betrüger herum. Allerdings waren diese Leute sicherlich leichte Beute für die Vampire.
Der Lärm, der über die Mauer schallte, hatte zugenommen, aber niemand wusste was eigentlich geschah oder geschehen sollte. Befehle wurden gebrüllt, Fluchen und aufgeregtes Geschrei.
Ich fühlte die Kälte und die Feuchtigkeit, doch das Gefühl in meinen Armen und die Klarheit meines Kopfes hatte ich schon längst verloren. Plötzlich tauchten zwei fremde Gestalten aus dem schwarz grauen Nebel auf, die aber ebenso schnell wieder verschwanden. Einer der Beiden war der junge Holzfäller Sorin, der schnell die Schärfe seines Schwertes prüfte. Außerdem trug er als Waffe noch ein schweres Beil bei sich. „Kein Erbarmen!“ Konnte ich Sorin laut schreien hören, aber ich konnte ihn nicht mehr sehen, da der dichte Nebel ihn verschluckt hatte. Nachdem ich schließlich die halbe Stadt durchquert hatte, kam ich an einem riesigen Turm an. Er ragte furchteinflößend und mächtig zum sternenlosen Himmel. Schrittweise ging ich die Treppen, die zum Eingang führten hinauf. Die Stufen waren übersät mit Laub, der feucht und glitschig war. Es war wirklich eine Kunst, ohne auszurutschen, die Turmtür zu erreichen. Mit einem schrillen Quietschen öffnete ich die alte Eisentür und betrat das Turminnere. Langsam ging ein paar Schritte über den kalten Lehmboden. Durch die weißen Fenster, wovon nur eines aus Buntglas war, schien der goldene Mond. Vor mir erhob sich eine riesige Wendeltreppe ohne Geländer, die bis ganz nach oben führte. Doch am Rande des viereckigen Raumes entdeckte ich eine weitere schmale Treppe, die hinunter zum Keller und auch zu dem Geheimgang führte. Vorsichtig drückte ich auf die Klinke und schloss die Tür hinter mir, danach schritt ich zu dem Aufstieg. Gerade als ich die Steige hinunter gehen wollte, schrillte die Eisentür am Turmeingang und ich kniete mich schnell in einer der Ecken, auf den kahlen Boden nieder. Vorsichtig warf ich einen Blick in Richtung Eingang, doch es war niemand zu sehen. Der Wind hatte wohl die Tür in ihren Angeln bewegt. Erleichtert trat ich aus dem Schatten hervor und ging wachsam die Stufen hinunter. Vor der Kellertür befand sich ein ziemlich niedriger Steinrundbogen. Ich wollte gar nicht wissen, wie viele Leute sich schon daran den Kopf aufgeschlagen hatten. Ich öffnete die hohe Eichentür und mir kam ein etwas moderiger Geruch entgegen. Die dunklen Steinwände waren sehr feucht und die Decke niedrig. Das Kellergewölbe war spärlich beleuchtet und mir wurde etwas unbehaglich, da die Decke so niedrig war und der Raum sehr klein. Eigentlich hatte ich keine Platzangst, trotzdem machte sich ein beengendes Gefühl in mir breit. Zu meiner Linken war eine weitere hohe Eichentür, die zu den Kerkerräumen führte. Und zu meiner Rechten war eine massive Holztür mit Mehrfachverriegelungen, die mich zu dem Geheimgang brachte.
Ich löste eine Fackel aus der Halterung, damit ich genug Licht hatte, und betrat den nächsten Raum. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, da befand ich mich in einer ziemlichen Dunkelheit. Zwar brannte etwas entfernt von mir ein kleines Licht, doch so schwach, das es den fensterlosen Raum nicht auszuleuchten vermochte. „Zum Glück habe ich die Fackel mitgenommen...“ murmelte ich leise und sah mich etwas um. An den Wänden stapelten sich auf tiefen Regalen, Schriftrollen und Bücher. Und auf der gegenüberliegenden Seite der Regale, stand gut versteckt im Schatten, eine eiserne Jungfrau die eigentlich zur Folterung und Hinrichtung von Menschen benutzt wurde. Diese allerdings, hatte einen ganz anderen Nutzen. Denn einer ihrer Nägel war der Auslöser für eine Falltür.
Nur sehr wenige Leute aus der Stadt wussten von diesem geheimen Weg. Meine Familie war eine der wenigen die es wussten, doch leider hat es ihnen nicht viel genützt. Hastig zog ich an einigen Dornen, bis plötzlich ein ohrenbetäubender Knall zu hören war, dem eine mächtige Erschütterung folgte. Feiner Staub und ein paar kleine Steinchen rieselten auf mich herab. Ich schaute nach oben und konnte die deutlichen Risse in der Decke sehen. Der Boden des oberen Stockwerks drohte einzustürzen – ein Wurfgeschoss hatte wohl den Turm getroffen und brachte ihn zum Fall. „Oh nein!“ schrie ich entsetzt und zog weiter rasch an den Stacheln, bis ich schließlich den richtigen Schalter gefunden hatte. Schnell kletterte ich die integrierte Leiter der Falltür – die sich hinter mir geöffnet hatte - hinunter, nur mit einem Gedanken: Schnell weg von hier!
Von panischer Angst gepackt, rannte und stolperte ich eine Art Korridor entlang. Staub wurde aufgewirbelt und hinter mir stürzte mit einem heiden Krach die Decke hinunter. Auch der Rest der Korridordecke schien schon bald zu folgen und alles unter sich zu begraben. Hier und da rieselten feine Steinchen hinunter, doch schon bald nach wenigen Sekunden, lösten sich schwere Gesteinsbrocken, denen ich aber geschickt ausweichen konnte. Das Atmen viel mir wirklich schwer, da ich viel Schmutz eingeatmet hatte, der meine Lungen verstopfte und mir auch beinahe die Sicht nahm. Ich hustete, presste mir die Hand feste auf den Mund, schloss die Augen und rannte einfach so schnell ich konnte um mein Leben.
Doch ganz unerwartet zerrte auf einmal der Wind an meinen glänzenden schwarzen Haaren und ich sah mich um. Über mir war der dunkelblaue Himmel, an dem plötzlich abermilliarden Sterne funkelten, zu sehen.
Vorsichtig trat ich ins rutschige und nasse Gras. Meine viel zu dünnen Schuhe sanken leicht ein, und gaben die Feuchtigkeit an meine Füße weiter. Rücksichtslos bahnte ich mir meinen Weg durch den immer dichter werdenden Wald. Zweige peitschten mir gegen den Körper, und hinterließen eine Spur aus Blättern und Dreck auf meiner schwarzen Kleidung. „Ich muss hier weg. Schnell, ganz schnell!“ Wie eine rituelle Gebetsformel wiederholte ich immer wieder diese beiden Sätze. Ich konnte noch immer, obwohl ich schon sehr weit von der Stadt entfernt war, das Grollen, mit dem der Turm in sich zusammenfiel, und die Schreie der Menschen hören. Irgendwann, als ich weit genug vom Ort des Geschehens weg war und ich mich in Sicherheit fühlte, blieb ich keuchend stehen. Ich drehte mich um und ließ mich erschöpft auf die Knie fallen. Angestrengt starrte ich gerade aus in die Finsternis. Weder die Stadt, noch die lodernden Flammen konnte ich mehr sehen, doch den Rauch der brennenden Häuser konnte ich bis hierher riechen. Der Wind trug den penetranten Geruch immer weiter vor sich her und schien ihn auch nicht mehr los lassen zu wollen.
Ich schlug mit der geballten Faust auf den matschigen Boden, dann weinte ich. Ich weinte, wie ich es noch nie vorher so getan hatte. Zorn brodelte in meinen Adern, jede Pore meines Körpers schrie gegen diese Ungerechtigkeit an, dass jemand mir meine Familie genommen hatte. Ich schrie so laut ich nur konnte, doch plötzlich, ein lautes Knacken! Äste krachen, Blätter rascheln, dann folgte ein tiefes Zischen. Mein erster Gedanke war: Flucht! Ein dunkler Körper schob sich durch das Geäst und kam auf mich zu. Langsam pirschte ich mich an, doch eine zweite schwarze Gestalt kam hinzu, die mich mit ihren rot glühenden Augen erspäht hatte. Sie sahen aus wie kleine funkelnde Rubine. Ich erstarrte für einen Augenblick voller Angst. Doch als der Schreck verflogen und ich nun wieder in der Lage war, meinen Körper zu beherrschen, wollte ich fliehen. Aber gerade als ich einen Sprung nach rechts machen und los laufen wollte, verschwanden die Augen urplötzlich. Auf einmal spürte ich dicht neben mir einen eisigen Luftzug und kalte Hände griffen nach meinem Leib. Ich reagierte blitzschnell und verpasste dem Vampir, der hinter mir stand und mich an atmete, einen gezielten Tritt in den Magen. Dem Fremden entwich ein hohes Quietschen vor Schmerz, das sich beinahe anhörte wie der Laut einer Fledermaus. Langsam torkelte er zurück und stolperte schließlich über eine Baumwurzel. Er hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Magen und schrie wütend: „Schnapp sie dir! Lass sie bloß nicht entkommen.“ Schnell rannte ich weiter, jedoch folgte mir das andere Wesen und es war mir dicht auf den Fersen. „Bleib stehen!“ kreischte der Vampir aufgebracht und verschnellerte sein Tempo. Plötzlich blieb mein Rock an einem Dornbusch hängen. „Arg..verflixt!“ Völlig außer Atem zerrte ich an dem Ast, der sich verhakt hatte und schließlich schaffte ich es mich zu befreien. Ich lief weiter. Die Erschöpfung und die Übelkeit wurden fast von der Aufregung aufgefressen. Ich stolperte über zahlreiche lose Äste und Baumstümpfe, die mir überall den Weg versperrten und mich nieder strecken wollten. Mit einem lautem Flügelschlag brach ein großer Vogel aus dem Geäst und schwang sich in den Himmel.
Ich spürte plötzlich einen starken Schmerz in meinem Fuß und taumelte. Ich schrie auf, merkte noch, wie ich zu Boden fiel. Das Letzte was ich sah, waren die an mir vorbei ziehenden Bäume.
Unter starken Kopfschmerzen öffnete ich die Augen. Der Himmel war blau und buntes Laub brach aus den Zweigen. Ein neuer Morgen hatte begonnen. Ruckartig richtete ich mich auf und sofort begann es in meinen Schläfen zu hämmern. Ich schloss die Augen und versuchte die Kopfschmerzen zurück zu drängen. Schweiß stand mir auf der Stirn und mir war übel. Ich schlug die Augen auf und tastete mich vorsichtig an einem Baum nach oben entlang, zog mich mit aller Kraft hoch, doch ich schwankte dabei noch etwas. Die Sonne strahlte hell, doch trotzdem war es recht frisch. Einige Vögel zwitscherten fröhlich vor sich hin, als wäre alles in bester Ordnung. Ich ließ meinen Blick über die Weite des Horizonts wandern und starrte schließlich auf einen unebenen, matschigen Weg.
Ich machte einige Schritte vorwärts, strauchelte jedoch plötzlich nach wenigen Metern über eine Tasche, die am Boden im feuchten Gras lag. „Aber... das ist doch nicht möglich! Wie kommt denn Horeas Schultasche hierher?“ fragte ich mich verwundert und hob sie auf. Ich öffnete ihre Schnallen und warf einen Blick in ihr Innerstes. Ein ganzer Leib Brot und eine riesige Flasche Wasser wurden in die kleine Tasche gequetscht. „Wie kann das sein? Horea kann sie hier unmöglich verloren haben, zumal seine Schule in einer ganz anderen Richtung liegt. Außerdem ist es allgemein bekannt, dass hier in dieser Gegend seltsame Dinge geschehen. Hier sollen eine Menge Menschen spurlos verschwunden sein. Horea würde niemals hierher kommen, dazu wäre er zu feige gewesen! Davon mal abgesehen, warum sind keine Schulbücher zu finden? Sehr komisch.“ dachte ich und konnte mir einfach nicht erklären, wie seine Tasche in dieses abgelegene Waldstück kam.
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